Ausbreitungsmodelle in der Meteorologie

Kann es hier zu einem Problem für „Klima“-Prognosen kommen?

von Dr. Hans-J. Dammschneider

Für die quantitative Bewertung von Strömungsvorgängen, ob atmosphärisch oder in der Hydrographie, stehen grundsätzlich zwei Vorgehensweisen zur Verfügung:

  1. Das EULER´sche Verfahren als „Punkt-“Aufnahme der Geschwindigkeitsdaten an einem Messort durch Aufzeichnung der über die Zeit veränderlichen (Teilchen-)Beschleunigung im Medium.
  2. Das LAGRANGE´sche Verfahren über eine „Weg-Strecken“-Aufnahme von gerichtet treibenden/fliessenden Teilchen- bzw. Objekten im Medium mit einer fortlaufenden Dokumentation der ´Aufenthalts´-Orte und einer daraus abgeleiteten Bewegungsgeschwindigkeit im Raum.

Beide Vorgehensweisen sind gemäss der verfügbaren Literatur (trotz der verschiedenen Betrachtungsweisen) „vollständig äquivalent“ und sollen „denselben Informationsgehalt“ haben. Zumindest mathematisch … .

Mit Abstand am weitesten verbreitet ist die Vorgehensweise nach EULER: Punktuelle Strömungsmessungen mit einem (beispielsweise)

a) Schalen-Anemometer (Medium „Luft“ = Meteorologie)

und/oder

b) Savonius-Rotor (Medium „Wasser“ = Hydrographie).

Geräte zur EULER´schen Strömungsmessung nehmen die Bewegungsimpulse (je nach technischer Auswahl) z.B. im Medium selbst mechanisch aber auch berührungslos elektroakustisch bzw. per Radar auf und mitteln die rotationsabhängigen Umdrehungszahlen oder (per Dopplerradar) die Bewegung des Mediums zu entsprechenden „Geschwindigkeiten“.

Die Daten im LAGRANGE´schen Verfahren werden meist erfasst durch die Verfolgung eines potentiellen ´Teilchens´, dessen Weg entlang einer grösseren Strecke sozusagen protokolliert/kartiert wird … von Pkt. A zum Pkt. B sind es 100m, die benötigte Zeit des (Treib-) Körpers/Teilchens ist 60 Sekunden, also beträgt die Geschwindigkeit 1,66 m/sec.

Der jeweilige Aufwand ist durchaus sehr unterschiedlich: Während man bei einer EULER´schen Punktmessung im Zweifelsfall sogar mit einem einzigen Gerät Werte aufzeichnet (die dann für ein ganzes Gebiet repräsentativ gelten sollen), muss im LAGRANGE´schen Verfahren die Strecke (dann tatsächlich ´im Raum´), die ein potentielles Teilchen im bzw. des Mediums zurücklegt, konkret-kontinuierlich protokolliert/aufgezeichnet werden.

Das LAGRANGE´sche Verfahren hat damit den Vorteil, darin tatsächlich ´sehen´ zu können, welche konkrete Strecke/welchen genauen Weg ein in das Medium eingebettetes Teilchen nimmt … man weiss damit, wo/an welchem Weg-Punkt innerhalb der Strecke es wann war, also wie schnell es sich detailliert im konkreten Raum bewegt.

Beim EULER´schen Verfahren ist es zwar sehr viel besser möglich die Geschwindigkeit des am Punkt ´durchlaufenden´ Teilchens über die Zeit/von Minute zu Minute zu erkennen, dafür allerdings bleibt unklar, was räumlich betrachtet „vor“ dem Messpunkt oder „hinter“ dem Messort mit diesem Teilchen geschieht … ist es dort vielleicht schneller/langsamer?

Man erkennt sofort, dass der relative Aufwand beim EULER´schen Verfahren deutlich geringer ist als beim LAGRANGE´schen … mit einem Messgerät gewinnt man Minute für Minute Werte über die Zeit (Euler). Demgegenüber ist die Verfolgung eines Teilchens über eine Strecke technisch schwieriger und, wenn man auch noch über die Zeit Daten haben möchte, nur wesentlich aufwändiger durchführbar (Lagrange).

So es also stimmt, dass die Annahme, EULER- und LAGRANGE-Verfahren seien „vollständig äquivalent“, dann ist klar, welcher Methodik in der Hydrographie wie in der Meteorologie der Vorzug gegeben wird … dem EULER´schen Vorgehen.

Die Frage ist allerdings: Ist die Ausgangsthese, dass EULER- und LAGRANGE-Verfahren gleich gute/identische Ergebnisse haben auch wirklich in der Praxis, also auch unter Einfluss von ´Nebenwirkungen´, noch korrekt?

Der Verfasser hat im Jahr 1988 (zunächst mehr zufällig als mit Absicht) Vergleichsmessungen im Wasserkörper der Unterelbe durchgeführt, die nun vielleicht (weil seither offenbar kaum etwas Neueres dazu publiziert wurde) auch für Klima- bzw. atmosphärische Transport-betrachtungen wieder aktueller werden.

Die damaligen Ergebnisse können wie folgt zusammengefasst werden:

Diverse parallel ablaufende hydrographische Messungen per EULER´schem und LAGRANGE´schem Verfahren zeigten in allen Fällen abweichende Strömungsergebnisse.

D.h. in allen Messungen IN DER NATUR zeigten die LAGRANGE´schen Auswertungen höhere Fliessgeschwindigkeiten als die EULER´schen. Die Messgeräte wie auch die methodischen Randbedingungen wurden mehrfach überprüft, das grundsätzliche Muster war aber signifikant erkennbar: LAGRANGE ist sozusagen „schneller“ als EULER! Egal ob bei Ebb- oder Flutstrom und egal wo im Regime des Flusslaufes man sich befindet.

Hier ist offenbar nicht die Mathematik gefragt, sondern es stellen sich in der Natur ganz praktische ´Störungen´ ein, die die Messungen beeinflussen. Ganz praktisch! Und es war nicht der Wind! Im grössten Verdacht stand/steht daher die Turbulenz, die 1988 mittels Unterwasservideoaufzeichnungen auch klar erkennbar wurde.

Denn diese konkreten Beobachtungen unter Wasser zeigten, dass bei unterschiedlichsten Geschwindigkeiten des (grossräumigen) Wasserkörpers immer wieder Phasen bzw. „Einschübe“ stattfinden/zu sehen waren, in denen das jeweilige Punkt-Messgerät regelrecht abstoppte, also die Geschwindigkeiten, die aufgezeichnet wurden, einbrachen. Wassertiefe oder Schwebstoffe spielten dabei keinerlei Rolle, der verwendete Gerätetypus ebenfalls nicht.

Sind diese hydrographischen Ergebnisse übertragbar auf das Medium ´Luft´ bzw. auf meteorologische Datenaufnahmen? Einiges spricht durchaus dafür, auch wenn die Medien eben eine gänzliche andere Dichte besitzen.

Fakt ist, dass die Ergebnisse der Naturmessungen Unterschiede der Verfahren zeigen. Mathematisch mögen die Vorgehensweisen „vollständig äquivalent“ sein, praktisch jedoch weichen sie in den o.a. Naturmessungen signifikant (bis zu über 30%) voneinander ab. Grund dafür könnte der Einfluss der ´chaotischen´ Turbulenz sein, die je Medium (im Wasserkörper nachweislich) zu einem unterschiedlichen Ergebnis führt. Denn Tatsache ist, dass nach den Aufnahmen von DAMMSCHNEIDER (1988) die LAGRANGE´schen Weg-Messungen grundsätzlich höhere Geschwindigkeiten zeigten als die zeit- und ortsgleich durchgeführten EULER´schen Punktmessungen.

Der Einfluss der Turbulenz wird allerdings, da nicht gut bestimmbar und mathematisch ´heikel´, offen gelassen. Siehe hier auch SAIDI et al (2014), die klar hervorheben, dass sie nur „laminar flows“ berücksichtigen.

Eine Durchsicht der verfügbaren Literatur kann leider nur wenige vergleichende und thematisch geeignete Bewertungen von EULER´schen und LAGRANGE´schen Messungen liefern.

Eine der Studie kommt von A.TSINOBER (2012). Er fasst auf einem Vortrag am Wiener Wolfgang Pauli Institut zusammen, dass (Übersetzung des Verfassers) „Euler´sche und Lagrange´sche Einstellungen (…) nicht nur technisch, sondern auch konzeptionell unterschiedlich (sind). Die Euler´sche Betrachtungsweise offenbart die rein dynamischen, chaotischen Aspekte der echten Turbulenz im Gegensatz zur ´Vermischung´ der kinematischen mit den dynamischen Aspekten in der Lagrange´schen Betrachtungsweise, d. h. in der echten Turbulenz sind beide Aspekte enthalten, die im Wesentlichen untrennbar zu sein scheinen. Man kann kaum erwarten, dass auch nur eine ´einfache´ Beziehung zwischen L- und E-Statistiken in Turbulenzströmungen besteht.“

Dennoch scheint bis heute die Annahme zu bestehen, dass beide Verfahren auch in der Natur gleichwertig seien?

In einer Pressenotiz der Universität Wien wird nun aber zu einer Veröffentlichung von K. Baier, M. Duetsch, M. Mayer u.a. (2022) mitgeteilt: „Methodisch setzte das Forschungsteam der Universität Wien auf atmosphärische Ausbreitungsmodelle, die sogenannten Lagrange’schen Modelle. Während herkömmliche Modelle meteorologische Parameter wie Luftfeuchtigkeit oder Temperatur an fixen Punkten erfassen, folgen die sogenannten Lagrange’schen Modelle den einzelnen Partikeln und erfassen, wie sich die meteorologischen Parameter entlang deren Weges ändern. Mithilfe dieser Modelle kann auch die Ausbreitung von Partikeln wie Russ oder Mikroplastik beziehungsweise von Treibhausgasen analysiert werden.“

Das ist gewiss ein interessanter Ansatz, da bei der LANGRANGE´schen Weg-Darstellung tatsächlich im Unterschied zu EULER´schen Punkt-Auswertungen eine deutlich bessere Raumauflösung (gerade bei Transport-Berechnungen) gelingen sollte.

Nur muss man sich die Frage stellen: Wieso (wenn es denn so ist) konnten bisherige Modelle die Mechanismen hinter den aufgezeigten ENSO/El Nino-Telekonnektionen – trotz zahlreicher Forschungsarbeiten gerade über ENSO – noch nicht ausreichend klären? Wieso erst jetzt mit der geänderten Methodik der LAGRANGE´schen Betrachtung? Es heisst in der Mitteilung der Universität Wien schliesslich auch: „Am Institut für Meteorologie und Geophysik der Universität Wien gelang nun ein Durchbruch im Verständnis der Rolle des Luftmassentransports bei Telekonnektionen“.

Bei ZHANG & CHEN (2007) wird festgestellt, dass ein „Vergleich zeigt, dass beide Methoden (Anmerkung: EULER zu LAGRANGE) die Verteilung der Partikelkonzentration im stationären Zustand gut vorhersagen können, während die Lagrange´sche Methode rechnerisch anspruchsvoller war.“ Und weiter: „Im instationären Zustand schnitt die Lagrange´sche Methode besser ab als die Euler´sche“.

Sollte das bedeuten, dass bisherige meteorologische/klimatologische Betrachtungen auf EULER´scher Basis unzureichend sind? Sind die o.a. Ergebnisse in K. Baier, M. Duetsch, M. Mayer u.a. (2022) also kompatibel mit den herkömmlichen, meint üblicherweise verwendeten Berechnungen in der Klimaforschung. Sind die Modelle, die Transporte berechnen und die als Grundlage primär die Daten aus punktuellen meteorologischen Messungen verwenden, wirklich korrekt? Sind die Unterschiede, die in der o.a. Veröffentlichung neu herausgearbeitet wurden, der Methodik geschuldet oder was ist der Grund, dass diese Ergebnisse andere Erkenntnisse (einen „Durchbruch im Verständnis“) liefern als bisher?

Literatur

Baier K. , Duetsch M. , Mayer M. u.a. (2022): The role of atmospheric transport for El Nino-Southern Oscillation teleconnections. In: Geophysical Research Letters, Vol. 49, Issue 23, 2022

https://medienportal.univie.ac.at/media/aktuelle-pressemeldungen/detailansicht/artikel/transport-von-luftmassen-im-zusammenhang-mit-el-nino-entschluesselt/

Dammschneider, Hans-Joachim (1988): Luftbildkartierung von Schwimmerbahnen – eine Methode zur iterativen Aufnahme von flächenhaften Strömungsverteilungen und ihr Vergleich zur punktuellen In-situ-Meßwertgewinnung. In: Die Küste 47 , S. 305-335.

https://henry.baw.de/handle/20.500.11970/101285 oder https://www.researchgate.net/publication/312488819

Saidi M.S, Rismanian M., Monjezi M. u.a. (2014): Comparison between Lagrangian and Eulerian approaches in predicting motion of micron-sized particles in laminar flows. In: Atmospheric Environment , Volume 89, June 2014, Pages 199-206

Tsinober, Arkady (2012): Lagrange versus Euler for turbulent flows and vice versa, with emphasis on relation(s) and dynamical aspects. Wolfgang Pauli Institute, Vienna, Austria, May 7-10, 2012 https://www.wpi.ac.at/themedata/euler_lagrangian_2012/Tsinober.pdf

Zhang, Z. & Chen, Q. (2007): Comparison of the Eulerian and Lagrangian methods for predicting particle transport in enclosed spaces. In: Atmospheric Environment, 41(25), 5236-5248.

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